Des Fähnrichs Rache

Ein Scherz von Teo von Torn
in: „Altonaer Nachrichten/Hamburger Neueste Zeitung” vom 01.09.1901


Das Mittagsmahl im Casino war vorüber. Auch die Dessert-Cigarren waren bereits zur Hälfte in blaue Wölkchen gelöst, die schichtweise über der Tafel lagerten und die flackernden Lichter mit einem Nebelhofe umgaben. Der Tischälteste, Major v. Qualen, hatte „Mahlzeit!” gesagt, und der Tischjüngste, Fähnrich v. Zempe, hatte halblaut sein tägliches Tischgebet gesprochen —: „Ach du lieber Gott, was war das wieder für'n Fressen!”

Somit hätte man längst aufbrechen können; aber da der Major noch saß, so fühlten sich auch die anderen Herren weder bemüssigt noch berechtigt, die Sitzung aufzuheben. Das wäre unmilitärisch gewesen — umsomehr, als der Herr Major nicht nur Tischältester, sondern auch Oberstcommandirender der Garnison war.

Schließlich hat mnan es ja ganz gemüthlich. Am oberen Ende der Tafel erzählte Herr v. Qualen einige ältere Anekdoten, — unten, bei den jungen Dachsen, drehte sich das Gespräch um die Freuden und auch voraussichtlichen Leiden des morgigen Balles.

Man war doch schon reichlich zwanzig Jahr — was also hatte einem das Leben im Allgemeinen und speciell so ein Ball noch viel zu bieten?

Der Einzige, der sich einer reinen, durch keinerlei böse Erfahrungen und Ueberdruß getrübten Freude hingab, das war der Fähnrich v. Zempe. Mit seinen achtzehn Jahren war er grauen Reflexionen durchaus abhold; zu jeder Fröhlichkeit wie zu jedem Unfug geneigt, betrachtete er den Dienst als eine überaus zeitraubende Einrichtung, die eigentlich nur in ihren Unterbrechungen einen Sinn hatte; und eine solche Unterbrechung war doch ein Ball immerhin.

Kurz, er freute sich. Und daß er dieser Freude sogar bis weit den Tisch hinauf gegenüber den „Vernunftgründen” seines directen Oberleutnants fidelen Ausdruck gab, wurde ihm, da man gut gegessen hatte, lächelnd nachgesehen. Er war ja noch soooo — jung, und der Herr General v. Zempe wollte sich immer schief lachen, wenn er auf der benachbarten Residenz zur Inspection kam und ihm hie und da ein lustiger Streich seines filius gesteckt wurde. Die Besichtigung lief dann auch immer gut ab, — denn ein Vorgesetzter, der lacht, ist meist ungefährlich.

Nur der Major hielt es für seine Pflicht, dem kleinen Frechdachs hie und da einen Dämpfer aufzusetzen. Obwohl in den allernächsten Tagen schon wieder eine Besichtigung zu erwarten war — und zwar eine unerwartete — ärgerte er sich heute doch über die laute Ungenirtheit, die ihm „von da unten her” in seine Pointen fiel. Schon wiederholt hatte er mißbilligend aufgeschaut, zuletzt sogar unter Benutzung seines Monocles und mit der gefährlichen krausen Nase.

Major v. Qualen unterbrach die famose Geschichte von dem Ober-Lazarethgehilfen Neumann, klemmte abermals sein Glas ein und stützte beide Ellenbogen breit auf den Tisch. Seinem mißbilligenden Blicke folgten die tadelnden Blicke der Häuptlinge, denen der Häuptlinge die empörten der Oberleutnants — bis endlich alle Augen auf den unentwegt redenden Fähnrich gerichtet waren.

„Wenn Sie das so nehmen wollen,” explicirte er eben mit dem schönsten Feuer, das er sich aus dem mittäglichen Dreimännerwein regelmäßig anzukneipen pflegte, „dann ist eben Alles stumpfsinnig; und der Dienst nicht zum wenigsten. Oder glauben Sie —”

Jetzt endlich bemerkte er, daß er der Zielpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit war. Viel mehr befremdet als verlegen schaute er sich stumm ringsum, ergriff dann sein Glas und sagte:

„Na prost — in diesem Sinne —”

Der erste Impuls des Majors war, den reglementswidrigen Grünschnabel von der molligen Tafel weg auf drei Tage zu Vater Philipp in Pension zu geben; gleich darauf fiel ihm aber die Besichtigung ein. Er zog es deshalb vor, der Sache eine mehr komische Seite abzugewinnen.

„Sagen Sie mal, Fähnrich —” rief er über den Tisch hinweg, indem er das Monocle aus dem Auge zwinkerte und den Kopf etwas auf die Seite neigte: „Sie haben wohl Flöhe im Gehirn, was?”

Max v. Zempe hatte inzwischen doch das rechte Gefühl für die kitzliche Situation gefunden, denn er fuhr mit etwas bedepptem Antlitz stramm auf. Durch das übliche „Zu Befehl!” die Annahme des Herrn Majors zu bestätigen, widerstrebte ihm aber trotzdem; und sie einfach zu bestreiten, wäre disciplinwidrig gewesen. Also schwieg er vorläufig und wartete in etwas unbehaglicher Spannung ab, was er sich da wohl wieder eingebrockt hatte. Darauf sollte er nicht lange warten; der Major fuhr fort:

„Erst riskirt der Mensch hier 'ne Lippe, als wenn es darauf ankäme, drei ausgewachsene Rechtsanwälte in die Gosse zu reden, so daß man sein eigenes Wort nicht verstehen kann, und außerdem — — — warum handelt es sich denn eigentlich, Fähnrich?”

„Zu Befehl, Herr Major, — Herr Oberleutnant v. Keltern war der Meinung, daß ein Ball ein ausgetragener Stumpfsinn sei — —”

Major v. Qualen warf einen mißbilligenden, die Herren Hauptleute einen tadelnden Blick auf den Oberleutnant, der sehr verlegen mit seinem Messerbänkchen spielte und dem „vorlauten Bengel” innerlich allerhand gute Sachen wünschte.

„Nun, ich meine,” bemerkte der Bataillonscommandeur ziemlich streng, „daß es bei solchen geselligen Veranstaltungen darauf ankommt, was man selbst zu ihnen mitbringt; allgemein möchte ich Ihre Behauptung nicht gelten lassen, Herr Oberleutnant von Keltern!”

Während dieser mit einer leichten Verbeugung über den richtig empfangenen Hieb ins Genick dankend quittirte, hob der Fähnrich seinen semmelblonden Kopf noch höher aus der engen Halsbinde und krähte triumphirend:

„Ganz meine Ansicht, Herr Major!”

Diese wenigen Worte wirkten, als ob mitten in Friedenszeiten ein Shrapnel in die große Krystallschale geschlagen wäre, die mitten auf dem Tische stand und deren unberührter Bestand an Knackmandeln und Traubenrosinen täglich frisch abgestaubt wurde. Der Major sah sich einen Moment stumm rings um und japste ein paarmal auf, wie ein trocken gelegter Karpfen.

„Herrrrr —” schrei er dann gewaltig über den Tisch. „Was Ihre grüne Ansicht ist, das geht mich den Deuwel an! Sind Sie brustkrank im Kopf — oder was ist sonst mit Ihnen?! So 'was ist ja noch gar nicht dagewesen!”

Plötzlich besann sich der erregte alte Herr auf die Besichtigung. Er sank langsam auf seinen Stuhl zurück, und obwohl seine Augen noch Blitze schossen, klang es schon viel gemäßigter, als er sagte:

„Danken Sie Ihrem Schöpfer, daß wir außerdienstlich zusammen sind! Im übrigen möchte ich Ihnen aber doch wenigstens das Anregende und Abwechslungsreiche des königlichen Dienstes vor Augen führen. Der Fähnrich v. Zempe wird” — so wendete sich der Major dienstlich an den Hauptmann Schelter — „morgen Nachmittag anstatt des Sergeanten Krause I den Gefangenentransport nach Berlin bringen. Setzen Sie sich!”

Die letzte freundliche Aufforderung galt dem Fähnrich, der aus alledem im Grunde nur das eine herausgehört, daß er morgen den Ball nicht mitmachen sollte. Das war das Schwerste. Und wenn er jetzt schweigend und nachdenklich seinen Römer drehte, so war das weniger Zerknirschung, als das still-innerliche Austoben eines ihm angethanen schweren Unrechts. Er brütete Rache . . . . .

Obwohl man sich im Uebrigen bemühte, die Stimmung wieder ins Loth zu bringen, wollte das doch nicht recht gelingen. Der Major fand seine Pointe nicht wieder und aus Aerger hob er ganz plötzlich die Sitzung auf. Durch das Stühlescharren und Hackenzusammenschlagen ging es wie ein Aufathmen der Erlösung. Jeder drückte sich, so schnell er konnte — nur der Oberleutnant v. Keltern machte sich auf dem Korridor noch etwas zu schaffen, bis der kleine Fähnrich mit genial umgeworfenem grauen Mantel heraustrat.

Der Leutnant verwickelte ihn sofort in ein lebhaftes Gespräch, das sich zwar ein bischen einseitig gestaltete, an Deutlichkeit aber nicht das Geringste zu wünschen übrig ließ. Als der Fähnrich dann die vom Strammstehen schier eingerosteten Knochen wieder lockern durfte, hätte kein Hund das sprichwörtliche Stück Brot von ihm angenommen — dafür war aber sein Racheplan fertig!

*           *           *

Je geringer die Erwartungen sind, die man an etwas knüpft, desto besser schlägt es aus. Der Ball im Casino verlief glänzend. Frau Hauptmann Schelter hatte im letzten Moment absagen müssen, da sie am Tage zuvor der schlankeren Taille wegen einen Schnürversuch gemacht hatte, der ihr übel bekommen war; sie lag an Atemnoth und ihre Jungfer an totaler Entkräftung im Bett.

Da dieser Schrecken aller tanzpflichtigen Leutnants also unschädlich war, kam man sehr bald in Stimmung. Es waren einige wirklich hübsche Damen da — der Sect ging auf Bataillonsunkosten — und die Kapelle hatte zu den hergebrachten „Donauwellen” noch einen andern Walzer geübt; und die älteren Herren droschen Scat. Das ist beim Militär so wie beim Civil.

Der Major hatte eben den ersten Kucki dieser Saison umgeschmissen — darob sich das entmenschte Paar, seine beiden Partner, freuten — als eine Ordonnanz mit allen äußeren Anzeichen seelischer Erregung eintrat und dem Herrn Major eine Meldung zu machen wünschte.

Letzterer zählte schnell noch einmal seine Stiche; aber es wurden nicht mehr, — netto neunundfünfzig.

„Das macht hundertundzwanzig auf die Badehosen!” rief er ärgerlich, indem er die Karten hinwarf und die Ordonnanz heranwinkte. „Na, was giebt es denn schon wieder?”

Der Mann beugte sich zu seinem Gebieter herab und flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr.

„Ach Quatsch!” stieß Herr v. Qualen hervor. Sein weinrothes Gesicht wurde aber doch mit einem Male bedenklich ernst. „Wer hat ihn denn gesehen?” inquirirte er, indem er die ihm frisch zugetheilten Karten beiseite schob und der Ordonnanz seine volle Breitseite zuwendete.

„Unterofficier Werder hatte die Austern zum Souper von der Bahn geholt — und er hat den Herrn General ganz genau erkannt, ebenso der Füsilier Kuhn, welcher den Herrn Unterofficier begleitete.”

„Bombenelement noch 'mal!” schimpfte der Major in sich hinein, indem er sich erhob — „das wäre eine schöne Geschichte, wenn uns der Alte heute hier über den Hals kommen wollte! — Verzeihen Sie, meine Herren,” wendete er sich flüchtig an seine Partner, den Steuerrath und den Bürgermeister, „eine dienstliche Angelegenheit!”

Der Major suchte seinen ältesten Hauptmann auf, und zwei Minuten später wußten es sämmtliche Officiere im Saal, daß der Herr Brigadecommandeur in der Stadt weile, und daß in der nächsten Secunde Alarm losgehen könne. — —

Wer da weiß, was das bedeutet, der wird ohne weiteres glauben, daß mit dem Augenblick die Gemüthlichkeit aufhörte. Mit der sicheren Aussicht auf Alarm tanzen oder Süßholz raspeln oder Scat spielen, das wäre gerade so, als wenn man von einem zum Tode Verurtheilten verlangte, sich noch schnell an einer Tennis-Partie zu betheiligen. Die Herren sammelten sich zu Gruppen — der Unterofficier wurde geholt und verhört — die Gesichter wurden immer erwartungsvoller, die Stimmen immer leiser und die Gemüther immer gedrückter.

Jetzt mußte es jeden Moment losgehen — — da — da klang schon der erste Ton der verwünschten unheimlichen Musik — — — aber nein, es war nur der Nachtwächter; den Musikern wurde für die nächsten Minuten verboten, ihre Instrumente zu stimmen, geschweige denn zu blasen! Eine stille, dumpfe Schwüle lagerte über dem Saale, die selbst die Herzen des Civils und die der Damen mit so einer Art erwartungsvollen Schauers erfüllte.

Das währte minutenlang, aber — es kam nichts.

Der Herr Major beherrschte sich, und es gelang ihm hier und da sogar, die leise, verschüchterte Frage eines Civilisten mit einem etwas krampfhaften Scherz zu beantworten. Die Häuptlinge hatten sich aber nach und nach gedrückt; namentlich der, dessen Compagnie die Wache hatte, war sofort nach dem ersten Auftauchen des Schreckensgerüchtes abgeschoben. Wenn seine „Hanaken” nicht aufpaßten, dann war es um ihn geschehen! Die anderen hatten auch verschiedene Aengste, die sie, wenn möglich, noch schnell ein wenig abstellen wollten — — und so leerte sich der Saal zusehends. Der Casinoball war so gut wie zu Ende . . . . .

Dafür entwickelte sich auf dem Kasernenhofe und in den Mannschaftsstuben ein reges, wenn auch in seinen Geräuschen stark unterdrücktes Treiben. Es war, als ob ein Gespenst umginge — für dessen Erscheinen man sich vorbereiten und zugleich auch verstecken müsse — — — aber es kam nichts — — —

Der Fähnrich v. Zempe hatte längst den langen Pelz mit der brennrothen Generalsklappe, den er sich in Berlin von seinem sorglichen Papa für die nächtliche Heimreise ausgepumpt, in der tiefsten Tiefe seines Kleiderschrankes verborgen — als Oberleutnant v. Keltern ihn im geheimen Auftrage des Officiercorps herausklopfte.

„Ist Ihr Herr Vater hier, Fähnrich?!”

„Mein Alter —? I Jott bewahre! Wie soll der wohl! Der sitzt zu Hause und spielt Schafskopf mit Excellenz v. Tottleben.”

„Aber das ist doch nicht möglich!”

„Wie ich Ihnen sage, Herr Oberleutnant — — — Schafskopf! . . . . .”

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